Monika Hauser: „Die Entwicklung in Afghanistan ist die bitterste Pille, die ich schlucken musste“

News 30.03.2023

Vor 30 Jahren gründete die Gynäkologin Monika Hauser die Organisation medica mondiale, die sich für die Rechte und den Schutz von Frauen in Konfliktgebieten einsetzt und Überlebende sexualisierter Gewalt unterstützt. 2008 erhielt sie für ihren unermüdlichen und wirkungsvollen Einsatz den Right Livelihood Award. medica mondiale arbeitet heute in 13 Ländern im Verbund mit Frauenrechtsorganisationen, Expertinnen und Aktivistinnen, die vor Ort gegen geschlechtsspezifische Gewalt kämpfen. Mit Right Livelihood spricht Monika Hauser über die Anfänge und über aktuelle Projekte.

Right Livelihood: Liebe Monika, du warst in deiner Facharztausbildung zur Gynäkologin und hattest bereits einen Plan, wo du anschließend arbeiten wolltest, als der Krieg in Bosnien alles änderte.

Monika Hauser: Ja. Ich wollte Deutschland verlassen und nach Kuba gehen. Zum einen wollte ich schon immer raus, habe beispielsweise eine Famulatur in Sri Lanka gemacht. Zum anderen konnte ich mir nicht vorstellen, in einem deutschen Krankenhaus oder einer Praxis zu arbeiten.

RL: Warum?

MH: Mir war von Anfang klar, dass meine Patientinnen eine Einheit von Körper und Seele sind. Mein Maßstab war dabei immer: Wie möchte ich selbst gern behandelt werden? Ich war dann ziemlich schockiert von der Realität in den Krankenhäusern. Ich habe erst in Südtirol gearbeitet und dann an einer deutschen Universitätsklinik meine Fachausbildung begonnen. Das Thema sexualisierte Gewalt an Frauen war überall ein Tabu, es wurde einfach nicht darüber gesprochen. Wenn nachts die Polizei eine Frau in die Klinik gebracht hat, war ich entsetzt darüber, wie mit ihr umgegangen wurde. Es war ein rein technischer Prozess. Niemand war für diese Thematik fortgebildet – weder das Klinikpersonal noch die Polizei. Mir wurde schnell klar, dass Frauen durch solches Verhalten retraumatisiert wurden und dass man hier dringend etwas ändern musste.

RL: Wie bist du vorgegangen?

MH: Ich habe mich mit ähnlich gesinnten Kolleginnen zusammengetan und in Pilotprojekten ganzheitliche Behandlungsansätze entwickelt, die immer die Lebensumstände mit im Blick hatten. Wir haben uns sozusagen selbst praktisch fortgebildet. Mich haben die Patientinnen sehr viel gelehrt, was ich für meine spätere Arbeit gut nutzen konnte.

RL: Dann kamen 1992 die Medienberichte über die Massenvergewaltigungen in Bosnien.

MH: Das hat mich wahnsinnig wütend gemacht. Die Verbrechen selbst natürlich, aber auch die sensationalisierende Berichterstattung. Viele Überlebende wurden dadurch retraumatisiert. Diese Frauen haben eine riesige Kraft bewiesen, weil sie trotz allem ihr Leben zusammengehalten und den Mut hatten, der Welt zu berichten, was geschehen ist. Aber anstatt diese Stärke zu zeigen und die Frauen vor weiterer Ausbeutung zu schützen, ging es vielen Medien um Blut und Tränen. Dieser Umgang zeigt sich leider bis heute in Konfliktregionen. Vorher und hinterher interessiert es niemanden, wie es Frauen im patriarchalen Alltag ergeht. Die Gewalt gibt es ja nicht nur im Krieg.

RL: Du bist dann kurzerhand nach Zagreb aufgebrochen.

MH: Ja, da war dieser Impuls, ich will direkt mit den Frauenorganisationen vor Ort sprechen, wie ich am besten unterstützen kann. Es zeigte sich, dass in Kroatien schon viel Hilfe angelaufen war, aber noch nichts in Zentralbosnien passierte. Ich erfuhr, dass sich an die 120.000 Geflüchtete in und um die Stadt Zenica aufhielten, sehr viele davon betroffene Frauen, die keinerlei fachliche Hilfe bekamen. Damit war klar, ich muss dorthin. Ich schloss mich Ende Dezember zwei Kasseler Pastoren an, die mit dem Auto Hilfsgüter nach Zenica bringen wollten. Ich habe dann über einen Kontakt vor Ort sehr schnell die Frauen kennengelernt, die später enge Mitarbeiterinnen wurden und mit denen ich teils bis heute eng befreundet bin. Mit diesen 20 Mitstreiterinnen, die alle hochmotiviert waren, haben wir gemeinsam ein Fachzentrum aufgebaut. Unser Team bestand aus Gymnasiallehrerinnen, die Deutsch unterrichteten und mit der Übersetzung halfen, Gynäkologinnen, Anästhesistinnen, Allgemeinärztinnen, Krankenschwestern, Psychologinnen, Verwaltungsmitarbeiterinnen und vielen mehr.

RL: War das als ehrenamtliches Projekt angelegt?

MH: Nein. Ich habe sehr schnell ein Budget aufgestellt und Spendengelder aus Deutschland erhalten.

RL: Konntet Ihr euch frei in der Region bewegen?

MH: Die bosnische Armee hat unser Projekt unterstützt und uns auch an die Frontlinie mitgenommen, damit wir die weiter entfernten Flüchtlingslager erreichen und von unserer Arbeit informieren konnten. Die bosnisch-kroatische Armee und das Paramilitär haben uns – wenig überraschend – immer wieder Schwierigkeiten gemacht. Daher habe ich beim UNHCR darauf gedrungen, dass wir die sogenannte Blue Card bekommen, die ausweist, dass wir UNHCR-assoziiert sind. Das hat uns einen gewissen Schutz gegeben. Wenn wir ausreisen mussten, haben uns UN-Panzer nach Sarajevo gebracht, um von dort rauszufliegen, ansonsten gab es von der UN vor Ort allerdings wenig Unterstützung.

RL: Warst du dir der Gefahren, denen du dich ausgesetzt hast, bewusst oder hast du die ausgeblendet?

MH: Ich war in der Tat total fokussiert und habe das nicht an mich herangelassen. Wir haben ja sehr viel erreichen können. Das waren harte, aber gleichzeitig wahnsinnig positive Erfahrungen wie ich sie noch nie im Leben gemacht hatte, als multi-ethnisches und multi-konfessionelles Frauen-Team gemeinsam dieses Zentrum aufzubauen, Widerstände zu überwinden und fachlich zusammen zu wachsen. Das hatte in all dem Kriegswahnsinn auch eine große mutmachende Signalwirkung in der gesamten Region.

RL: Wie lange warst du vor Ort?

MH: Das gesamte Jahr 1993. Ich wollte dann 1994 in Köln meinen Fachärztinnen-Abschluss fertig machen, auch wenn ich mit einem Bein weiterhin in Zenica war. Das war ein ziemlicher Spagat. Hier ging das Leben ja einfach weiter und wenn ich mir mal wieder freinehmen musste für unser Projekt, war das Verständnis in der Klinik dafür gering.

RL: Ihr habt außerdem euer Kölner Büro aufgebaut und angefangen in weiteren Ländern zu arbeiten.

MH: Erst kam der Kosovo dazu, dann Afghanistan. Dort hatten wir mit der Zeit eine Organisation mit 90 Mitarbeitenden aufgebaut, zunächst mit internationalen Kolleginnen, die das dann peu a peu an Kolleginnen vor Ort übergeben haben. Mittlerweile setzen wir verstärkt auf die Zusammenarbeit mit bestehenden Organisationen. Das heißt, wir gehen als Organisation nicht mehr direkt in die Krisengebiete rein, sondern unterstützen die Arbeit von lokalen Frauenrechtsorganisationen, die sich vor Ort bereits engagieren.

RL: Was waren die Arbeitsfelder?

MH: Es geht uns immer um die interdisziplinäre, also die medizinische, psychosoziale und juristische Unterstützung – kombiniert mit politischer und gesellschaftlicher Menschenrechtsarbeit. Unsere erste Kooperationspartnerin in Afghanistan war übrigens Sima Samar, die ja 2012 den Right Livelihood Award erhielt. Wir kennen uns inzwischen über 20 Jahre.

RL: Heute gehören zu euren Schwerpunktregionen Südosteuropa, Irak, Zentral- und Westafrika. Medica Afghanistan musste inzwischen geschlossen, die Mitarbeitenden evakuiert werden…

MH: …nun unterstützen wir sie hier in Deutschland auf unterschiedliche Weise. Und in Afghanistan arbeiten wir weiterhin mit fünf Organisationen zusammen, die versuchen unter den gegebenen Bedingungen psychosoziale Begleitung von traumatisierten Frauen zu organisieren, Jura-Studentinnen, die nicht weiter studieren können, weiterzubilden oder sich für den Schutz von Menschenrechtsverteidiger*innen einsetzen. Die Entwicklung in Afghanistan ist die bitterste Pille, die ich in den 30 Jahren seit Bestehen von medica mondiale schlucken musste. Zugleich beeindruckt mich sehr, wie mutig Frauen vor Ort weiterhin auf kreative Weise Widerstand leisten. Das wird international viel zu wenig gesehen.

RL: Du hast über die Zeit viele schlimme Bilder gesehen und mit grausamen Geschichten zu tun. Wie schaffst du es, damit umzugehen?

MH: 1994, nach meiner Zeit in Bosnien, hatte ich einen schweren Zusammenbruch. Ich musste für drei Monate den Stecker ziehen und schmerzhaft lernen, dass ich auch auf mich selbst aufpassen muss, wenn ich diese Arbeit weiter machen möchte. Ich habe dann nicht nur für mich gelernt, wie das gelingt, wir haben auch direkt ein Projekt daraus gemacht. Es nennt sich „achtsame Organisationskultur“, denn es betrifft ja nicht nur mich, sondern auch andere Kolleginnen.

RL: Was tust du im Alltag, um für dich zu sorgen?

MH: Saxophon spielen, joggen gehen, Yoga machen oder die Beziehung mit meinem Mann pflegen. Hier die richtige Balance zu finden, ist aber eine lebenslange Aufgabe. Das wichtigste ist, gut im Kontakt mit sich selbst zu bleiben.

RL: 2008 hast du den Right Livelihood Award erhalten. Wie hat sich das auf eure Arbeit ausgewirkt?

MH: Also erstmal musste ich bestimmt ein halbes Jahr lang Interviews geben. Es haben sich viele für unsere Arbeit interessiert, die sich vorher nicht dafür interessierten. Und auch bei den Spendeneinnahmen war das spürbar. Der Right Livelihood Award hat uns also einen großen Schub gegeben.

RL: Wie sieht der Austausch mit anderen Preisträger*innen aus?

MH: Im November 2022 gab es eine Zusammenarbeit mit Denis Mukwege, um ein aktuelles Beispiel zu nennen. Wir waren mit 30 Kolleginnen aus Deutschland, Bosnien, dem Kosovo, der Demokratischen Republik Kongo, Burundi, Uganda und Ruanda auf dem Mukwege-Kongress in Bukavu, der sich mit Entschädigungsmechanismen für Überlebende von sexualisierter Gewalt befasste. Gemeinsam mit bosnischen Aktivist*innen hatten wir erreicht, dass 2006 in Bosnien ein Gesetz verabschiedet wurde, das im Krieg vergewaltigten Frauen eine monatliche Pension garantierte und sie formal den Veteranen gleichstellte. Das Geld schützt vor völliger Armut und ist enorm wichtig, aber ebenso bedeutsam ist die soziale Anerkennung, die damit der bisherigen gesellschaftlichen Stigmatisierung entgegengesetzt wurde.

RL: Das ist ja ein großer Erfolg, der Schule machen sollte.

MH: Absolut. Es bräuchte weltweit solche Gesetze, ist aber noch ein langer Weg. Im Nordirak, wo wir seit 2016 intensiv arbeiten, tut sich gerade ein bisschen etwas. Wir schulen dort auf Einladung der dortigen Regierung schon eine Weile Mitarbeitende im staatlichen Gesundheitswesen in dem von uns entwickelten stress- und traumasensiblen Ansatz. 2022 haben wir eine Delegationsreise mit unseren kurdischen Partner*innen und kurdischen Politiker*innen organisiert, die nach Zenica gefahren sind, um sich das bosnische Modell anzuschauen. Im Mai gehen die Gespräche hierzu im Nordirak weiter.

RL: Von Bosnien lernen gilt auch in einem Projekt, das Ihr derzeit in der Ukraine durchführt, richtig?

MH: Ja. Wir machen regelmäßig Online-Trainings für ukrainische Frauenrechtsaktivistinnen sowie Mitarbeiterinnen aus Frauenberatungsstellen und Frauenhäusern. Und diese Trainings führen wir zusammen mit bosnischen und kosovarischen Kolleginnen aus unseren Erstprojekten durch. In gewisser Weise schließt sich hier also – wenn auch aus traurigem Anlass – gerade ein Kreis.

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